Fabio Calo zur Situation nach den Anschlägen von Paris

18. November 2015

Am vergangenen Freitag wurde Paris von mehreren unfassbaren terroristischen Mordanschlägen erschüttert. Die Terrororganisation „Islamischer Staat“, die mit dem Islam nur insofern etwas zu tun hat, als dass sie ihn für ihre unmenschlichen Taten missbraucht und die allermeisten Opfer dieser Organisation Muslime sind, hat sich zu diesen Anschlägen bekannt. 132 Todesopfer forderte der Abend des 13. November in Paris. Ich bin erschüttert, dass so viele Menschen dem perversen Fanatismus der Terroristen zum Opfer gefallen sind. Doch die Reaktionen auf diese Anschläge verdienen auch eine kritische Betrachtung.

Um eines gleich vorweg zu sagen: Ich habe Angst. Nicht so sehr vor den Terroristen. Angst vor dem Terror ist genau das, was die Terroristen erreichen wollen, die Destabilisierung unserer Gesellschaft durch die Verbreitung von Panik in der Bevölkerung. Ich habe Angst, was diese Anschläge aus den hiesigen Debatten machen könnten.

Seit den Anschlägen zeigt sich überall eine riesige Welle der Solidarität mit den Franzosen. Überall auf der Welt wurden bedeutende Gebäude, Denkmäler und Sehenswürdigkeiten in den Farben der französischen Trikolore illuminiert. Auf Facebook, wird massenhaft von der Funktion Gebrauch gemacht, sein Profilbild mit diesen Farben zu hinterlegen. In Wembley hat gestern das gesamte Stadion die Marseillais angestimmt. Doch ist das tatsächlich das richtige Symbol, unsere Anteilnahme auszudrücken? Französischer Patriotismus als Bekenntnis gegen den Terror? Waren diese Anschläge nicht weniger Anschläge speziell auf die französische Nation, als auf die Werte Toleranz, Weltoffenheit, Frieden, Freiheit, und zwar überall auf der Welt? Ich möchte keinesfalls die vielen Menschen, die sich an dieser Anteilnahme beteiligen, verärgern, und erkenne sehr wohl ihre lobenswerten Motive. Ich möchte zur selbstkritischen Betrachtung der eigenen Form der Anteilnahme anregen.

In den letzten Tagen waren auch drei französische Begriffe vielfach im öffentlichen Sprachgebrauch zu vernehmen: Liberté, Égalité, Fraternité, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die universal geltenden Werte der Französischen Revolution, gegen die diese Anschläge gerichtet waren.

Liberté: In Frankreich soll der Ausnahmezustand auf drei Monate verlängert werden. Das gibt dem Präsidenten und der Regierung weitreichende Vollmachten, basierend auf einem Gesetz, das aus dem Algerienkrieg 1955 stammt. Dieses Gesetz erlaubt auch die vorübergehende Aufhebung von Bürgerrechten, auch wenn dies im aktuellen Dekret nicht vorgesehen ist. Hollande will jedoch die Verfassung ändern, um das Prinzip des Ausnahmezustands an die aktuelle Situation anzupassen. Was genau das heißt, darüber kann man zum jetzigen Zeitpunkt nur spekulieren, mehr Freiheit, bedeutet es sicher nicht.

Égalité: Die Anschläge vom 13. November müssen jeden mitfühlenden Menschen schockieren. Doch sie sind Alltag. Nicht in Europa. Aber in Syrien, dem Irak, Afghanistan, Pakistan, Israel, den Palästinensergebieten, sowie in anderen Krisenstaaten des Nahen Ostens. Islamistischer Terror fordert seit Jahren täglich Todesopfer in dieser Region, was zum Teil übrigens erst möglich gemacht wurde durch die Unterstützung von Despoten oder direkt von Islamisten durch den Westen. Auch durch Deutschland, immerhin sind wir drittgrößter Waffenexporteur der Welt, und haben jahrelang kräftig in die Krisenregionen des Nahen Ostens geliefert. Doch die Anteilnahme für die arabischen und die muslimischen Opfer war all die Jahre nicht annähernd so groß wie die, die wir jetzt für die Franzosen erleben. Syrien schien weit weg, nun ist es auf einmal beängstigend nahe. Ich finde, die Anschläge hätten uns die Augen öffnen sollen für das Leid der Menschen, die in den Staaten leben, für die Anschläge wie die in Paris alltäglich sind, stattdessen wird diese Tatsache in der öffentlichen Wahrnehmung weitestgehend ignoriert, die Anteilnahme beschränkt sich weitestgehend auf die Franzosen. Alle sollten gleich sein, doch sind wir ehrlich: sind manche für uns nicht doch manchmal gleicher?

Fraternité: Bereits kurz nach dem Anschlag, wurden Spekulationen laut, bei einem der Terroristen könne es sich um einen Syrer handeln, der mit dem Flüchtlingsstrom nach Europa gekommen sei. Die neue polnische Regierung hat darauf mit der Ankündigung reagiert, keine syrischen Flüchtlinge aufzunehmen. Und auch in Deutschland haben Scharfmacher sehr schnell die Attentate von Paris dafür herangezogen, eine restriktivere Flüchtlingspolitik durchzusetzen. Markus Söder fühlte sich nur kurze Zeit nach den Anschlägen, über deren genaue Hintergründe wir immer noch nicht sehr viel wissen, dazu berufen, die Aussage zu tätigen: „Paris ändert alles. Wir dürfen keine illegale und unkontrollierte Einwanderung mehr zulassen“. Er zeigt damit, dass er nicht verstanden hat, dass genau dieser islamistische Terror der Grund ist, warum der Flüchtlingsstrom in diesem Jahr so angewachsen ist. Die Flüchtlinge wollen den Terror nicht in die Welt tragen, sie wollen ihm entkommen! Die Aussage von Matthias Matussek, der angesichts von 132 Toten und etwa 200 Verletzten frohlockte, die Ereignisse würden die Flüchtlingsdebatte in eine ganz neue erfrischende (!) Richtung lenken, und dies mit einem Smiley versah (!!), ist ohne Zweifel ein Gipfel der Geschmacklosigkeit.

Die französische Armee bombardiert nun verstärkt Stellungen des IS in Syrien. Dabei werden zweifellos nicht nur IS-Kämpfer ums Leben kommen, sondern auch Zivilisten, unschuldige Menschen, Kinder. Das ist nichts neues in der islamischen Welt, durch den Drohnenkrieg der USA sterben ja schon seit Jahren auch Unschuldige, die einfach zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Es ist eine gefährliche Illusion, zu glauben, militärische Kampagnen könnten das Problem des Terrorismus beseitigen. Die Kriege nach 9/11 – mit welchen guten Absichten und Motiven sie auch immer begonnen wurden – haben uns gezeigt, dass dem Terrorismus auf diese Weise nicht beizukommen ist. Stattdessen erzeugen und verbreiten zivile Opfer unserer Luftschläge in der islamischen Welt das Feindbild des Westens, und bieten so guten Nährboden für die Rattenfänger des IS.

Welche Konsequenzen sind nun aber aus den Anschlägen von Paris zu ziehen? Weiter wie bisher? Kein Fuß breit dem Terrorismus? Kooperation mit Assad? Stärkung unserer Sicherheitsorgane? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es in einer freiheitlichen Demokratie, und sei sie noch so wehrhaft, keine hundertprozentige Sicherheit geben kann. In diesen Tagen ist oft der ehemalige Ministerpräsident Norwegens Jens Stoltenberg zitiert worden, der auf die Bluttaten von Anders Behring Breivik vom 22. Juli 2011 in Oslo mit den Worten reagierte: „Ihr werdet unsere Demokratie und unser Engagement für eine bessere Welt nicht zerstören.“ Und weiter: „Noch sind wir geschockt, aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben. Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit.“ Würden wir auf den Terrorismus anders reagieren, hätten die Terroristen schon gewonnen.

Liberté, Égalité, Fraternité. Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, wie hoch wir diese Werte wirklich halten.